Wie die Dezentralisierung der Energieerzeugung die Marktkommunikation verändert Stand: April 2025 | Version 1.0
Die zunehmende Dezentralisierung der Energieerzeugung – insbesondere durch Prosumer (Kombination aus Produzenten und Konsumenten) – stellt die etablierte Geschäftslogik der Marktkommunikation vor grundlegende Herausforderungen. Dieser Wandel betrifft sowohl die technischen Prozesse als auch die regulatorischen Rahmenbedingungen, die bisher auf zentrale Großkraftwerke und unidirektionale Energieflüsse ausgelegt waren. Im Folgenden werden die zentralen Veränderungen, Spannungsfelder und Anpassungsbedarfe dargestellt.
1. Kernveränderungen durch Dezentralisierung
a) Bidirektionale Daten- und Energieflüsse
Traditionell basierte die Marktkommunikation auf einer klaren Rollenverteilung: Energieversorger (EVU) lieferten Strom an Endkunden, während Netzbetreiber (VNB) die Infrastruktur bereitstellten. Mit der Verbreitung von Photovoltaik-Anlagen, Batteriespeichern und steuerbaren Verbrauchseinrichtungen (z. B. Wärmepumpen) wird der Energiefluss jedoch zunehmend bidirektional:
- Prosumer speisen Überschüsse ins Netz ein, beziehen aber auch Strom aus dem Netz.
- Flexibilitätsmärkte (z. B. Redispatch 2.0, Regelenergie) erfordern Echtzeit-Daten über Erzeugung, Verbrauch und Speicherstatus.
- Lokale Energiegemeinschaften (z. B. Mieterstrommodelle) verlagern Marktprozesse auf die Niederspannungsebene.
Diese Dynamik erfordert eine deutlich höhere Granularität und Frequenz der Datenkommunikation, die über die bisherigen Standardlastprofile (SLP) und registrierende Leistungsmessung (RLM) hinausgeht.
b) Disaggregation der Marktrollen
Die klassischen Akteure (Lieferant, Bilanzkreisverantwortlicher, Messstellenbetreiber) sehen sich mit neuen Schnittstellen konfrontiert:
- Messstellenbetreiber (MSB) müssen nicht nur Verbrauch, sondern auch Einspeisung und Speicherzustände erfassen (gemäß § 21b EnWG).
- Bilanzkreisverantwortliche (BKV) benötigen präzisere Prognosen, da volatile Prosumer-Erzeugung die Bilanzkreisabweichungen erhöht.
- Netzbetreiber müssen lokale Netzengpässe in Echtzeit managen, was eine engere Kopplung mit Marktprozessen erfordert (z. B. über MaKo 2020 und GPKE).
2. Regulatorische Spannungsfelder
a) Marktkommunikation (MaKo) und GPKE: Anpassungsbedarf
Die Marktkommunikation (MaKo) und die Geschäftsprozesse zur Kundenbelieferung mit Elektrizität (GPKE) sind auf zentrale Strukturen ausgelegt. Dezentralisierung führt zu folgenden Konflikten:
- Datenvolumen und -frequenz:
- Die MaKo 2020 sieht monatliche oder jährliche Abrechnungsprozesse vor, während Prosumer-Daten (z. B. 15-Minuten-Werte) eine tägliche oder stündliche Übermittlung erfordern.
- Die GPKE regelt zwar die Wechselprozesse zwischen Lieferanten, nicht aber die dynamische Zuordnung von Prosumer-Rollen (z. B. wenn ein Haushalt zeitweise Netzeinspeiser ist).
- Rollenkonflikte:
- Ein Prosumer kann gleichzeitig Lieferant (bei Einspeisung), Kunde (bei Bezug) und Flexibilitätsanbieter (z. B. für Regelenergie) sein. Die aktuellen Prozesse sehen keine mehrdimensionale Marktteilnahme vor.
- Die Bilanzkreiszuordnung wird komplexer, da Prosumer ihre Erzeugung nicht immer einem einzigen BKV zuordnen können (z. B. bei gemeinschaftlichen Anlagen).
b) Unbundling und Datenschutz
- Unbundling-Vorgaben (§ 6 ff. EnWG) trennen Netzbetreiber und Lieferanten, doch Prosumer-Daten müssen oft netz- und marktseitig genutzt werden (z. B. für Engpassmanagement). Hier fehlen klare Regelungen zur Datenweitergabe.
- DSGVO-Konformität: Hochauflösende Verbrauchsdaten (z. B. 15-Minuten-Werte) ermöglichen Rückschlüsse auf Haushaltsverhalten. Die Messsystemverordnung (MsbV) sieht zwar Pseudonymisierung vor, doch die praktische Umsetzung ist lückenhaft.
3. Notwendige Anpassungen der Geschäftslogik
a) Technische Infrastruktur
- Echtzeit-Datenplattformen:
- Einführung von API-basierten Schnittstellen (z. B. über EDIFACT-Nachfolgestandards oder REST-APIs) für den Austausch von Prosumer-Daten zwischen MSB, BKV und VNB.
- Nutzung von Blockchain- oder DLT-Lösungen (z. B. für lokale Energiegemeinschaften) zur dezentralen Abrechnung, sofern regulatorisch zugelassen.
- Dynamische Bilanzierung:
- Entwicklung von Prosumer-Bilanzkreisen, die Einspeisung und Bezug getrennt, aber synchron abbilden.
- Automatisierte Flexibilitätsmeldungen an Netzbetreiber (z. B. über Redispatch 2.0-Schnittstellen).
b) Regulatorische Weiterentwicklung
- MaKo 2.0 oder MaKo Prosumer:
- Einführung eines neuen Marktprozessstandards für bidirektionale Kommunikation, der:
- 15-Minuten-Werte als Standard vorsieht (analog zu RLM).
- Mehrfachrollen (Lieferant/Kunde/Flexibilitätsanbieter) abbildet.
- Dynamische Wechselprozesse ermöglicht (z. B. wenn ein Prosumer den Lieferanten wechselt, aber weiterhin einspeist).
- Einführung eines neuen Marktprozessstandards für bidirektionale Kommunikation, der:
- GPKE-Erweiterung:
- Klärung der Zuständigkeiten bei Prosumer-Anlagen (z. B. wer für die Messung verantwortlich ist, wenn ein Haushalt eine PV-Anlage und einen Speicher betreibt).
- Integration von Flexibilitätsmärkten in die GPKE-Prozesse (z. B. automatisierte Meldung von steuerbaren Lasten an den Netzbetreiber).
- Datenhoheit und -nutzung:
- Präzisierung der Datenweitergabe zwischen Netzbetreibern und Lieferanten (z. B. für Engpassmanagement) unter Wahrung des Unbundling.
- Entwicklung von DSGVO-konformen Pseudonymisierungsverfahren für hochauflösende Verbrauchsdaten.
c) Wirtschaftliche Implikationen
- Kostenverteilung:
- Die Mehrkosten für Messinfrastruktur (z. B. intelligente Messsysteme) müssen zwischen Netzbetreibern, Lieferanten und Prosumern fair verteilt werden.
- Diskussion über Umlagemodelle (z. B. über Netzentgelte oder EEG-Umlage), um die Systemintegration von Prosumern zu finanzieren.
- Neue Geschäftsmodelle:
- Aggregatoren (z. B. für virtuelle Kraftwerke) werden als Mittler zwischen Prosumern und Märkten an Bedeutung gewinnen.
- Dynamische Tarife (z. B. Time-of-Use) erfordern eine engere Kopplung von Marktkommunikation und Abrechnungssystemen.
4. Fazit und Ausblick
Die Dezentralisierung der Energieerzeugung erzwingt eine grundlegende Neuausrichtung der Marktkommunikation, die über inkrementelle Anpassungen der MaKo und GPKE hinausgeht. Drei zentrale Handlungsfelder zeichnen sich ab:
- Technische Harmonisierung: Entwicklung von Echtzeit-Datenstandards und Schnittstellen, die bidirektionale Flüsse abbilden.
- Regulatorische Klarheit: Präzisierung der Rollen, Datenflüsse und Verantwortlichkeiten für Prosumer-Szenarien.
- Wirtschaftliche Tragfähigkeit: Schaffung von Anreizen für die Systemintegration dezentraler Erzeuger, ohne die Kosteneffizienz zu gefährden.
Langfristig wird die Marktkommunikation dynamischer, datenintensiver und kollaborativer werden müssen. Die Herausforderung besteht darin, diese Transformation ohne Überlastung der Akteure und unter Wahrung der Versorgungssicherheit zu gestalten. Eine enge Abstimmung zwischen Bundesnetzagentur, Verbänden (z. B. BDEW, VKU) und der IT-Branche ist hierfür unerlässlich.
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