Einfluss der dynamischen Netzgebietszuordnung auf die Verantwortungsabgrenzung zwischen Alt- und Neunetzbetreiber
Die dynamische Zuordnung von Markt- und Messlokationen (MaLo) zu Netzgebieten ist ein zentraler Bestandteil der netzübergreifenden Abwicklungsprozesse im deutschen Energiemarkt. Sie dient der korrekten Zuweisung von Verantwortlichkeiten zwischen den beteiligten Netzbetreibern (NB) und ist insbesondere bei Netzübergängen (z. B. durch Gebietsreformen, Konzessionswechsel oder strukturelle Anpassungen) von Bedeutung. Die asynchrone Übertragung von MaLo zwischen Alt- und Neunetzbetreiber führt jedoch zu prozessualen und regulatorischen Herausforderungen, die die Verantwortungsabgrenzung erschweren und Lücken in der Abwicklung offenlegen.
1. Verantwortungsabgrenzung im Übergangsprozess
Die Verantwortung für eine MaLo liegt grundsätzlich beim aktuell zuständigen Netzbetreiber, der durch die Netzgebietszuordnung im Marktstammdatenregister (MaStR) und die Bilanzierungsvorgaben der Bundesnetzagentur (BNetzA) definiert wird. Bei einem Netzgebietswechsel erfolgt die Übertragung der MaLo in der Regel in zwei Schritten:
Administrative Übertragung (vertraglich/regulatorisch):
- Der neue Netzbetreiber übernimmt die Verantwortung für die MaLo zum vertraglich vereinbarten Stichtag (z. B. Konzessionswechsel).
- Die Meldung an das MaStR erfolgt durch den Alt-NB, der die MaLo als „nicht mehr im Netzgebiet“ kennzeichnet.
Technische Umsetzung (physikalische Netztrennung):
- Die tatsächliche Umschaltung der Messlokation (z. B. Zählerwechsel, Umparametrierung) kann zeitversetzt erfolgen, insbesondere wenn infrastrukturelle Anpassungen erforderlich sind.
Problem: Die asynchrone Abwicklung dieser Schritte führt zu einer temporären Verantwortungslücke, da:
- Der Alt-NB die MaLo formal bereits abgegeben hat, aber noch technische oder bilanzielle Pflichten (z. B. Abrechnung, Störungsmanagement) wahrnehmen muss, bis die physische Übergabe abgeschlossen ist.
- Der Neu-NB die MaLo zwar administrativ übernommen hat, aber noch keine vollständige Kontrolle über die Messdaten oder Netzsteuerung besitzt.
Diese Diskrepanz kann zu Ablehnungen von Meldungen führen (wie im Kontext beschrieben), wenn der Alt-NB eine MaLo als „nicht mehr im Netzgebiet“ markiert, der Neu-NB jedoch noch keine vollständige Datenhoheit hat.
2. Prozessuale Lücken durch asynchrone Übertragungszeitpunkte
Die Hauptprobleme entstehen durch zeitliche Verzögerungen und fehlende Synchronisation zwischen den beteiligten Akteuren:
a) Fehlende Echtzeit-Synchronisation zwischen MaStR und Marktkommunikation
- Die MaStR-Meldung des Alt-NB (Kennzeichnung der MaLo als „nicht mehr im Netzgebiet“) erfolgt oft vor der technischen Übergabe.
- Die Marktkommunikation (z. B. Wechselprozesse in der Lieferantenabwicklung, GPKE/GeLi Gas) läuft jedoch weiter, ohne dass der Neu-NB bereits alle notwendigen Daten (z. B. Zählerstände, Netzstatus) vorliegen hat.
- Folge: Meldungen (z. B. Bilanzkreiszuordnungen, Störungsmeldungen) werden vom Alt-NB abgelehnt, da er sich nicht mehr zuständig fühlt, während der Neu-NB sie noch nicht bearbeiten kann.
b) Unklare Zuständigkeit in der Übergangsphase
- Bilanzierung: Wer ist für die Bilanzkreisabrechnung verantwortlich, wenn die MaLo bereits übertragen wurde, aber der Zähler noch nicht umgestellt ist?
- Störungsmanagement: Wer bearbeitet Netzstörungen, wenn die MaLo formal beim Neu-NB liegt, aber physikalisch noch vom Alt-NB versorgt wird?
- Abrechnung: Wer stellt die Netzentgelte in Rechnung, wenn die MaLo während eines laufenden Abrechnungszeitraums übertragen wird?
Die BNetzA-Vorgaben (z. B. GPKE, MaBiS) sehen hier keine klaren Regelungen für Übergangsphasen vor, was zu manuellen Nachbearbeitungen und Rechtsunsicherheit führt.
c) Dateninkonsistenzen zwischen Alt- und Neu-NB
- Der Alt-NB löscht oder archiviert Daten nach der Übertragung, während der Neu-NB noch auf historische Messwerte angewiesen ist (z. B. für die Bilanzkreisabrechnung).
- Folge: Fehlende Daten führen zu Nachforderungen, Korrekturen oder Streitigkeiten zwischen den Parteien.
3. Regulatorische Lücken und Handlungsbedarf
Die aktuellen Regelwerke (z. B. EnWG, StromNZV, GasNZV, MaBiS, GPKE) enthalten keine ausreichenden Vorgaben für die Handhabung asynchroner Übergänge. Konkrete Lücken sind:
a) Fehlende Definition einer „Übergangsverantwortung“
- Es gibt keine klare Regelung, wer in der Phase zwischen administrativer und technischer Übergabe verantwortlich ist.
- Lösungsansatz: Eine temporäre gemeinsame Verantwortung (z. B. für 30 Tage nach MaStR-Meldung) könnte Streitigkeiten vermeiden.
b) Unzureichende Synchronisation zwischen MaStR und Marktprozessen
- Die MaStR-Meldung sollte automatisiert mit den Marktkommunikationsprozessen (GPKE, GeLi Gas) verknüpft werden, um Ablehnungen zu vermeiden.
- Lösungsansatz: Einführung eines „Übergangsstatus“ in den Marktprozessen, der eine automatische Weiterleitung von Meldungen an den Neu-NB ermöglicht, bis die technische Übergabe abgeschlossen ist.
c) Fehlende Standardisierung der Datenübergabe
- Es gibt keine verbindlichen Vorgaben, welche Daten (z. B. historische Messwerte, Netzstatusinformationen) vom Alt- an den Neu-NB übergeben werden müssen.
- Lösungsansatz: Entwicklung eines standardisierten Übergabeprotokolls (ähnlich dem „Wechselprozess Strom/Gas“), das alle relevanten Daten umfasst.
d) Unklare Haftungsregelungen bei Fehlern
- Wer haftet, wenn durch eine falsche MaStR-Meldung (z. B. vorzeitige Abmeldung) eine MaLo nicht mehr bilanziert wird?
- Lösungsansatz: Klare Haftungsregeln in den Festlegungen der BNetzA, die eine Rückverfolgbarkeit von Fehlern ermöglichen.
4. Praktische Empfehlungen für Netzbetreiber
Um die genannten Probleme zu minimieren, sollten Netzbetreiber folgende Maßnahmen ergreifen:
Synchronisation der Übergabezeitpunkte
- Die MaStR-Meldung sollte erst erfolgen, wenn die technische Übergabe (z. B. Zählerumstellung) abgeschlossen ist.
- Falls dies nicht möglich ist: Klare vertragliche Regelungen zur Übergangsverantwortung.
Automatisierte Datenübergabe
- Nutzung standardisierter Schnittstellen (z. B. EDIFACT, XML) für die Übergabe von Messdaten und Netzstatusinformationen.
- Einrichtung eines gemeinsamen Datenraums für die Übergangsphase.
Proaktive Kommunikation mit Marktpartnern
- Vorabinformation an Lieferanten, Bilanzkreisverantwortliche und Messstellenbetreiber über geplante Netzgebietswechsel.
- Einrichtung eines Helpdesks für Übergangsphasen, um Anfragen schnell zu klären.
Dokumentation und Nachweispflichten
- Lückenlose Protokollierung aller Übergabeschritte (z. B. Zeitstempel der MaStR-Meldung, Zählerstandsübergabe).
- Regelmäßige Abstimmung zwischen Alt- und Neu-NB, um Dateninkonsistenzen zu vermeiden.
Fazit
Die dynamische Netzgebietszuordnung führt bei asynchronen Übertragungszeitpunkten zu Verantwortungslücken, Prozessstörungen und regulatorischen Unsicherheiten. Während die aktuellen Regelwerke die administrative Übergabe regeln, fehlen klare Vorgaben für die technische und bilanzielle Übergangsphase. Eine Standardisierung der Datenübergabe, eine temporäre gemeinsame Verantwortung und eine bessere Synchronisation zwischen MaStR und Marktprozessen könnten die Probleme entschärfen. Bis dahin sind Netzbetreiber auf manuelle Abstimmungen und vertragliche Lösungen angewiesen, um Konflikte zu vermeiden. Die BNetzA sollte hier nachbessern, um die Rechtssicherheit und Effizienz der Prozesse zu erhöhen.