Einfluss sequentieller Abhängigkeiten auf Fehlerfortpflanzung in der Marktkommunikation und Maßnahmen zur Entschärfung von Kaskadeneffekten
1. Problemstellung: Sequentielle Abhängigkeiten und Fehlerfortpflanzung In der Marktkommunikation der Energiewirtschaft sind Prozesse wie Lieferantenwechsel, Zählerstandsübermittlung oder Netznutzungsabrechnung häufig sequentiell verknüpft. Das bedeutet, dass der Output eines Prozesses (z. B. die Bestätigung eines Lieferantenwechsels) als Input für den nächsten Prozess (z. B. die Abrechnung durch den Netzbetreiber) dient. Diese Abhängigkeiten führen zu einer kumulativen Fehleranfälligkeit:
- Fehlerfortpflanzung: Ein initialer Fehler (z. B. falsche Zählerstandsübermittlung) pflanzt sich über nachgelagerte Prozesse fort und verstärkt sich ggf. durch manuelle Korrekturen oder Systembrüche. Beispiel: Ein fehlerhafter Zählerstand führt zu falschen Netznutzungsabrechnungen, die wiederum Bilanzkreisabweichungen verursachen.
- Zeitliche Verzögerungen: Da Prozesse nacheinander ablaufen, verzögern sich Korrekturen. Ein Fehler in der Lieferantenwechselbestätigung blockiert z. B. die Abrechnung und führt zu Fristüberschreitungen.
- Komplexität der Ursachenanalyse: Durch die Verkettung von Prozessen ist die Rückverfolgung von Fehlern aufwendig. Oft werden Symptome (z. B. falsche Rechnungen) behandelt, ohne die Ursache (z. B. fehlerhafte Stammdaten) zu beheben.
2. Regulatorische Hebel zur Entschärfung Die Bundesnetzagentur (BNetzA) und der Gesetzgeber haben bereits Rahmenbedingungen geschaffen, um Kaskadeneffekte zu begrenzen:
Standardisierung von Prozessen und Datenformaten:
- Die Marktregeln für die Durchführung der Bilanzkreisabrechnung Strom (MaBiS) und die Wechselprozesse im Messwesen (WiM) definieren verbindliche Abläufe und Schnittstellen. Durch einheitliche Datenformate (z. B. EDIFACT, XML) wird die Fehleranfälligkeit an Übergabepunkten reduziert.
- Empfehlung: Eine weitere Harmonisierung der Prozesse (z. B. durch die BNetzA-Festlegung BK6-22-001 zu Lieferantenwechseln) könnte sequentielle Abhängigkeiten verringern.
Automatisierte Plausibilitätsprüfungen:
- Regelwerke wie die GPKE (Geschäftsprozesse zur Kundenbelieferung mit Elektrizität) sehen vor, dass Marktteilnehmer Daten vor der Weitergabe validieren. Beispiel: Netzbetreiber müssen Zählerstände auf Plausibilität prüfen, bevor sie an Lieferanten übermittelt werden.
- Erweiterungspotenzial: Die Einführung Echtzeit-Validierungen (z. B. über Blockchain-basierte Systeme) könnte Fehler bereits bei der Entstehung erkennen.
Fristen und Eskalationsmechanismen:
- Die MaBiS und WiM legen verbindliche Fristen für Prozessschritte fest (z. B. 10 Werktage für die Bestätigung eines Lieferantenwechsels). Bei Nichteinhaltung greifen Eskalationsverfahren, die eine schnelle Fehlerbehebung erzwingen.
- Kritikpunkt: Die Fristen sind oft zu starr und berücksichtigen nicht die Komplexität von Fehlerketten. Eine dynamische Anpassung (z. B. durch KI-gestützte Priorisierung) könnte hier helfen.
3. Prozessuale Maßnahmen zur Risikominimierung Neben regulatorischen Vorgaben können Marktteilnehmer durch interne Optimierungen die Fehlerfortpflanzung reduzieren:
Entkopplung von Prozessen durch Puffer und Redundanzen:
- Durch die Einführung von Datenpuffern (z. B. temporäre Speicherung von Zählerständen) können nachgelagerte Prozesse unabhängig vom Timing vorangegangener Schritte arbeiten.
- Beispiel: Ein Netzbetreiber könnte Zählerstände zunächst in einem zentralen System speichern und erst nach einer Plausibilitätsprüfung an Lieferanten weiterleiten.
End-to-End-Monitoring und Traceability:
- Die Implementierung von Prozess-Tracking-Systemen (z. B. über eindeutige Transaktions-IDs) ermöglicht die lückenlose Nachverfolgung von Datenflüssen. Tools wie SAP IS-U oder custom-built Lösungen können hier unterstützen.
- Vorteil: Fehler lassen sich schneller lokalisieren, und Korrekturen können gezielt an der Ursache ansetzen.
Schulung und Verantwortungszuweisung:
- Klare Rollen- und Verantwortungsdefinitionen (z. B. durch RACI-Matrizen) verhindern, dass Fehler durch unklare Zuständigkeiten verschleppt werden.
- Praktische Umsetzung: Regelmäßige Schulungen zu Schnittstellenprozessen (z. B. zwischen Netzbetreiber und Lieferant) erhöhen das Bewusstsein für Fehlerquellen.
Nutzung von Referenzdatenbanken:
- Zentrale Stammdatenpools (z. B. die BDEW-Stammdatenbank oder MaKo-Hub) reduzieren Inkonsistenzen, indem alle Marktteilnehmer auf einheitliche Daten zugreifen.
- Herausforderung: Die Aktualität und Pflege der Datenbanken muss sichergestellt werden, um neue Fehlerquellen zu vermeiden.
4. Technologische Lösungsansätze Moderne Technologien bieten zusätzliche Hebel zur Entschärfung von Kaskadeneffekten:
Künstliche Intelligenz (KI) für Fehlererkennung:
- KI-Systeme können Muster in historischen Daten erkennen und frühzeitig auf Anomalien hinweisen (z. B. ungewöhnliche Zählerstandsverläufe).
- Beispiel: Ein Algorithmus könnte vorhersagen, dass ein Lieferantenwechsel aufgrund fehlender Stammdaten scheitern wird, und eine Warnung ausgeben.
Distributed-Ledger-Technologie (DLT):
- Blockchain-basierte Systeme ermöglichen eine dezentrale, manipulationssichere Protokollierung von Transaktionen. Jeder Prozessschritt wird dokumentiert, was die Rückverfolgbarkeit verbessert.
- Pilotprojekte: Einige Netzbetreiber testen bereits DLT für die Abrechnung von Netznutzungsentgelten.
Microservices-Architekturen:
- Durch die Entkopplung von Systemen in kleine, unabhängige Services (z. B. für Zählerstandsmanagement und Abrechnung) können Fehler isoliert und schneller behoben werden.
5. Fazit und Handlungsempfehlungen Sequentielle Abhängigkeiten in der Marktkommunikation führen zu einer systemischen Fehleranfälligkeit, die durch regulatorische, prozessuale und technologische Maßnahmen adressiert werden muss. Die wichtigsten Hebel sind:
Regulatorisch:
- Weiterentwicklung der MaBiS und WiM hin zu flexibleren Fristen und strengeren Plausibilitätsprüfungen.
- Förderung von Referenzdatenbanken und Standardisierung von Schnittstellen.
Prozessual:
- Einführung von Datenpuffern und End-to-End-Monitoring zur Entkopplung von Prozessen.
- Klare Verantwortungszuweisung und Schulungen für Schnittstellenprozesse.
Technologisch:
- Einsatz von KI für Fehlererkennung und DLT für manipulationssichere Protokollierung.
- Migration zu Microservices-Architekturen zur Reduzierung von Systembrüchen.
Langfristig sollte das Ziel sein, die Marktkommunikation von einer sequentiellen zu einer parallelisierten und resilienten Architektur zu entwickeln, in der Fehler lokal begrenzt und nicht kaskadenartig verstärkt werden. Dies erfordert jedoch eine enge Zusammenarbeit zwischen Regulierungsbehörden, Marktteilnehmern und Technologieanbietern.