Auswirkungen der selektiven Außerkraftsetzung von Prüfregeln auf die Risikoverteilung in der Marktkommunikation (Strom)
1. Systematische Risikoverlagerung durch selektive Prüfausnahmen
Die Außerkraftsetzung spezifischer Prüfregeln für bestimmte UTILMD- (z. B. E03, Z88, E35) und UTILTS-Nachrichtentypen (z. B. Z36) führt zu einer asymmetrischen Risikoverteilung zwischen den Marktpartnern. Diese Regelungen basieren auf der Annahme, dass bestimmte Nachrichtentypen oder Absender (z. B. Lieferanten mit der Rolle NAD+MR in LF) eine höhere inhärente Datenqualität oder Vertrauenswürdigkeit aufweisen. Die Folgen dieser Ausnahmen lassen sich wie folgt systematisieren:
a) Netzbetreiber: Erhöhtes operatives und finanzielles Risiko
- Datenintegrität und Plausibilität: Durch den Verzicht auf Prüfungen (z. B. bei E03 – „Anmeldung Strom“) entfällt die automatisierte Validierung von Stammdaten (z. B. Zählpunktbezeichnung, Netzanschlusskapazität) oder Prozesslogik (z. B. zeitliche Konsistenz von An- und Abmeldungen). Fehlerhafte oder manipulierte Daten können so ungehindert in die Systeme des Netzbetreibers gelangen, was zu:
- Falschen Netzbelastungsprognosen (z. B. durch fehlerhafte Lastprofile) führt,
- Unberechtigten Netzentgeltforderungen (z. B. bei falschen Leistungsangaben) oder
- Betrieblichen Störungen (z. B. durch inkonsistente Schaltanforderungen).
- Haftungsrisiko: Da der Netzbetreiber als „letzte Instanz“ für die technische Umsetzung verantwortlich ist, trägt er das Risiko von Folgeschäden (z. B. Netzüberlastung durch falsche Anmeldedaten), selbst wenn die Ursache beim Lieferanten liegt. Die fehlende Prüfung erschwert die Nachweisführung im Schadensfall.
b) Lieferanten: Reduziertes Compliance-Risiko, aber erhöhte Verantwortung
- Vereinfachte Prozesse: Lieferanten profitieren von der Ausnahme, da sie weniger strenge Format- oder Inhaltsprüfungen durchlaufen müssen (z. B. bei Z88 – „Abmeldung Strom“). Dies beschleunigt die Marktkommunikation, insbesondere bei Massenprozessen (z. B. Lieferantenwechsel).
- Implizite Vertrauenszuschreibung: Die Regelung unterstellt, dass Lieferanten (insbesondere bei NAD+MR in LF in E35) eine höhere Datenqualität liefern. Dies basiert auf der Annahme:
- Institutioneller Kontrolle: Lieferanten unterliegen regulatorischen Vorgaben (z. B. § 5 EnWG) und Marktaufsicht, was die Wahrscheinlichkeit vorsätzlicher Falschmeldungen reduziert.
- Technischer Reife: Große Lieferanten verfügen über etablierte IT-Systeme, die Fehlerquellen minimieren.
- Risiko von „Moral Hazard“: Die Ausnahme kann Anreize setzen, weniger Sorgfalt in die Datenaufbereitung zu investieren, da Fehler seltener erkannt werden. Langfristig könnte dies die Datenqualität im gesamten Markt verschlechtern.
c) Marktpartner (z. B. Messstellenbetreiber, Bilanzkreisverantwortliche): Indirekte Risikoexposition
- Kaskadeneffekte: Fehler in UTILMD/UTILTS-Nachrichten pflanzen sich in nachgelagerten Prozessen fort. Beispiel:
- Eine fehlerhafte E03-Anmeldung führt zu falschen Bilanzkreiszuordnungen, was die Arbeit des Bilanzkreisverantwortlichen erschwert.
- Eine unplausible Z36-Nachricht (UTILTS) kann zu falschen Abrechnungsgrundlagen für den Messstellenbetreiber führen.
- Vertrauensabhängigkeit: Da die Prüfungen entfallen, müssen Marktpartner auf die Richtigkeit der Daten vertrauen – ohne Möglichkeit der automatisierten Validierung. Dies erhöht die Abhängigkeit von der Sorgfalt des Absenders.
2. Implizite Annahmen über Vertrauenswürdigkeit und Datenqualität
Die Ausnahmen basieren auf folgenden Prämissen, die jedoch nicht explizit dokumentiert oder empirisch validiert sind:
a) Nachrichtentyp-spezifische Risikobewertung
- E03 (Anmeldung Strom) / Z88 (Abmeldung Strom):
- Annahme: Diese Nachrichten sind „low-risk“, da sie primär administrative Prozesse betreffen und keine unmittelbaren technischen Auswirkungen haben (z. B. keine Schaltanforderungen).
- Kritik: Falsche Anmeldungen können dennoch zu falschen Netzbelastungsprognosen führen (z. B. wenn ein Kunde fälschlich als Industriekunde mit atypischer Netznutzung gemeldet wird).
- E35 (Stammdatenänderung) mit NAD+MR in LF:
- Annahme: Lieferanten (LF) haben ein Eigeninteresse an korrekten Stammdaten, da Fehler zu Abrechnungsdifferenzen führen.
- Kritik: Die Rolle LF sagt nichts über die technische Umsetzung aus. Kleine Lieferanten oder solche mit veralteten IT-Systemen könnten dennoch fehlerhafte Daten liefern.
- Z36 (UTILTS):
- Annahme: Zeitkritische Nachrichten (z. B. Lastgangdaten) erfordern schnelle Verarbeitung, weshalb Prüfungen entfallen.
- Kritik: Gerade bei zeitkritischen Daten sind Plausibilitätsprüfungen essenziell, um grobe Fehler (z. B. unrealistische Verbrauchswerte) zu erkennen.
b) Rollenbasierte Vertrauenszuschreibung
- Die Ausnahme für NAD+MR in LF (E35) unterstellt, dass Lieferanten als „vertrauenswürdige Quelle“ gelten. Dies ignoriert jedoch:
- Interessenkonflikte: Lieferanten könnten Daten manipulieren, um Netzentgelte zu optimieren (z. B. durch falsche Leistungsangaben).
- Technische Heterogenität: Nicht alle Lieferanten verfügen über gleichwertige IT-Systeme. Die Regelung begünstigt große Player und benachteiligt kleinere Anbieter, die möglicherweise höhere Fehlerquoten aufweisen.
c) Datenqualität als „Black Box“
- Die Ausnahmen implizieren, dass die Datenqualität bei bestimmten Nachrichtentypen oder Absendern per se hoch ist. Dies ist jedoch eine unbelegte Annahme:
- Es gibt keine systematische Erhebung von Fehlerquoten nach Nachrichtentyp oder Absenderrolle.
- Die Regelung berücksichtigt nicht, dass Fehler auch durch menschliches Versagen (z. B. manuelle Dateneingabe) oder Systemmigrationen entstehen können.
3. Langfristige systemische Risiken
Die selektive Außerkraftsetzung von Prüfregeln birgt folgende Gefahren für die Marktstabilität:
- Erosion der Datenqualität: Wenn Fehler seltener erkannt werden, sinkt der Anreiz für Marktpartner, in Datenqualität zu investieren.
- Intransparente Risikoverteilung: Die impliziten Annahmen über Vertrauenswürdigkeit sind nicht standardisiert und können zu Ungleichbehandlungen führen.
- Regulatorische Lücken: Die Ausnahmen sind nicht mit den Vorgaben der BNetzA (z. B. zur Datenqualität in § 60 EnWG) oder den MaBiS-Regeln abgestimmt. Dies könnte im Schadensfall zu rechtlichen Grauzonen führen.
- Technische Schulden: Netzbetreiber müssen manuelle Nacharbeiten oder Korrekturprozesse etablieren, um die fehlenden Prüfungen zu kompensieren – was die Effizienzgewinne der Ausnahmen zunichtemacht.
4. Empfehlungen für eine risikoäquivalente Ausgestaltung
Um die Risikoverteilung fairer zu gestalten, sollten folgende Maßnahmen geprüft werden:
- Differenzierte Prüfungen: Statt pauschaler Ausnahmen sollten Prüfungen nach Risikoklassen (z. B. technische vs. administrative Nachrichten) und Absenderhistorie (z. B. Fehlerquote des Lieferanten) gestaffelt werden.
- Transparente Dokumentation: Die Annahmen über Vertrauenswürdigkeit und Datenqualität sollten explizit in den Marktregeln festgehalten und regelmäßig überprüft werden.
- Kompensatorische Mechanismen: Für Nachrichten mit Prüfausnahmen könnten stichprobenartige Kontrollen oder automatisierte Plausibilitätschecks (z. B. Vergleich mit historischen Daten) eingeführt werden.
- Haftungsregeln: Klare Regelungen, wer im Fehlerfall haftet (z. B. bei falschen E03-Anmeldungen), würden die Risikoverteilung symmetrischer gestalten.
Fazit
Die selektive Außerkraftsetzung von Prüfregeln verschiebt das Risiko primär auf die Netzbetreiber, während Lieferanten und bestimmte Nachrichtentypen privilegiert werden. Diese Praxis basiert auf impliziten Annahmen über Datenqualität und Vertrauenswürdigkeit, die weder empirisch belegt noch systematisch überwacht werden. Langfristig könnte dies die Stabilität der Marktkommunikation untergraben. Eine risikoäquivalente Ausgestaltung erfordert daher eine datengetriebene Überprüfung der Ausnahmen sowie transparente Kriterien für deren Anwendung.