Einfluss zeitlicher Diskrepanzen auf die Verantwortungsabgrenzung im Messstellenbetrieb und Mechanismen zur Vermeidung systematischer Fehlallokationen
1. Problemstellung: Zeitliche Diskrepanzen und ihre Auswirkungen
Im Messstellenbetrieb (MSB) ist die korrekte Zuordnung von Geschäftsvorfällen (z. B. Messwertübermittlung, Schaltvorgänge, Störungsmeldungen) zu den verantwortlichen Marktteilnehmern (Absender, Netzbetreiber, Lieferanten) essenziell für eine transparente und rechtssichere Abrechnung sowie für die operative Steuerung. Eine zentrale Herausforderung entsteht, wenn die zeitlichen Intervalle eines Geschäftsvorfalls (z. B. Messwertzeitraum, Schaltzeitpunkt) nicht mit dem Zuordnungszeitraum des Absenders zum Messobjekt (z. B. Zählpunkt, Anlage) übereinstimmen.
Konkrete Szenarien:
- Vorzeitiger Beginn: Der Geschäftsvorfall startet vor der offiziellen Zuordnung des Absenders zum Objekt (z. B. ein Messwert wird übermittelt, bevor der Lieferantwechsel vollzogen ist).
- Nachlaufender Abschluss: Der Geschäftsvorfall endet nach dem Ende der Zuordnung (z. B. eine Störungsmeldung wird erst nach Vertragsende bearbeitet).
Folgen für die Verantwortungsabgrenzung:
- Unklare Haftung: Wer trägt die Verantwortung für den Vorfall? Der ehemalige oder der neue Marktteilnehmer?
- Abrechnungsrisiken: Fehlzuordnungen können zu falschen Kostenverteilungen führen (z. B. Umlage von Netzentgelten auf den falschen Lieferanten).
- Operative Ineffizienzen: Manuelle Klärungen verzögern Prozesse und erhöhen den Koordinationsaufwand zwischen den Beteiligten.
- Regulatorische Compliance: Verstöße gegen die Messzugangsverordnung (MsbG) oder das Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) können Bußgelder nach sich ziehen.
2. Prozessuale und regulatorische Mechanismen zur Vermeidung von Fehlallokationen
a) Standardisierte Meldeverfahren (Fehlercode-Systematik)
Der im Kontext genannte Meldecode ist ein zentrales Instrument, um zeitliche Diskrepanzen systematisch zu erfassen und zu kommunizieren. Seine Funktionsweise:
- Automatisierte Plausibilitätsprüfung: IT-Systeme (z. B. Marktkommunikationsplattformen wie MaKo 2020) vergleichen die Zeitstempel von Geschäftsvorfällen mit den Zuordnungszeiträumen der Marktteilnehmer.
- Fehlerkennzeichnung: Bei Abweichungen wird der Vorfall mit einem standardisierten Code (z. B. "Zeitliche Inkongruenz") markiert und dem Absender gemeldet.
- Eskalationspfad: Der Absender muss den Vorfall prüfen und entweder korrigieren oder eine Begründung für die Abweichung liefern (z. B. technische Verzögerung bei der Datenübertragung).
Rechtliche Grundlage:
- § 60 MsbG (Pflicht zur korrekten Datenübermittlung)
- BDEW/VKU-Leitfaden zur Marktkommunikation (Regelungen zu Fehlercodes und Meldepflichten)
b) Zeitliche Synchronisation durch Marktprozesse
Um Diskrepanzen präventiv zu vermeiden, sind folgende Mechanismen etabliert:
Vorlaufzeiten für Zuordnungsänderungen:
- Änderungen der Marktteilnehmerzuordnung (z. B. Lieferantenwechsel) müssen mindestens 15 Werktage vor Wirksamkeit angekündigt werden (§ 41 MsbG).
- Dies gibt allen Beteiligten Zeit, ihre Systeme anzupassen und Geschäftsvorfälle korrekt zuzuordnen.
Stichtagsregelungen:
- Geschäftsvorfälle werden tagesgenau dem zum Stichtag verantwortlichen Marktteilnehmer zugeordnet.
- Beispiel: Ein Messwert vom 15.05. wird dem Lieferanten zugeordnet, der am 15.05. für den Zählpunkt zuständig war – unabhängig davon, ob am 16.05. ein Wechsel stattfand.
Rollierende Datenaktualisierung:
- Messstellenbetreiber und Netzbetreiber aktualisieren ihre Stammdaten täglich (z. B. über das Stammdatenmanagement nach § 55 MsbG).
- Dies minimiert das Risiko, dass veraltete Zuordnungen zu Fehlallokationen führen.
c) Technische Lösungen: Automatisierte Zeitstempel und Blockchain
- Zeitsynchronisation via NTP (Network Time Protocol): Alle beteiligten IT-Systeme nutzen eine zentrale Zeitquelle (z. B. die Physikalisch-Technische Bundesanstalt), um Zeitstempel konsistent zu halten.
- Blockchain-basierte Protokollierung: In Pilotprojekten werden Geschäftsvorfälle in dezentralen Ledgern erfasst, um Manipulationen oder nachträgliche Änderungen der Zeitstempel zu verhindern.
d) Regulatorische Kontrollen und Sanktionen
- Bundesnetzagentur (BNetzA): Die BNetzA überwacht die Einhaltung der Marktregeln und kann bei systematischen Fehlallokationen Anordnungen zur Prozessverbesserung erlassen.
- Bußgelder: Bei vorsätzlichen oder grobfahrlässigen Fehlzuordnungen drohen Geldstrafen nach § 95 EnWG (bis zu 100.000 €).
- Schiedsstellenverfahren: Bei Streitigkeiten zwischen Marktteilnehmern kann die Schiedsstelle nach § 111 EnWG angerufen werden, um eine verbindliche Klärung herbeizuführen.
3. Praktische Handlungsempfehlungen für Marktteilnehmer
Datenqualität sicherstellen:
- Regelmäßige Prüfung der Stammdaten auf Aktualität (z. B. Zuordnungszeiträume, Zählpunktbezeichnungen).
- Automatisierte Alerts bei zeitlichen Diskrepanzen einrichten.
Prozessdokumentation:
- Klare interne Richtlinien, wie mit gemeldeten Fehlern (z. B. Code-Meldungen) umzugehen ist.
- Protokollierung aller Korrekturmaßnahmen für Nachweispflichten.
Schulungen und Systemtests:
- Mitarbeiter im Umgang mit Marktkommunikationssystemen schulen.
- Regelmäßige Testläufe durchführen, um zeitliche Abweichungen frühzeitig zu erkennen.
Zusammenarbeit mit Dienstleistern:
- Bei Auslagerung von Prozessen (z. B. an Messdienstleister) vertraglich sicherstellen, dass diese die zeitlichen Vorgaben einhalten.
4. Fazit
Zeitliche Diskrepanzen zwischen Geschäftsvorfällen und Zuordnungszeiträumen stellen ein systematisches Risiko für die Verantwortungsabgrenzung im Messstellenbetrieb dar. Durch eine Kombination aus technischen Lösungen (automatisierte Plausibilitätsprüfungen, Zeitstempel-Synchronisation), prozessualen Standards (Meldecodes, Vorlaufzeiten) und regulatorischen Kontrollen (BNetzA, Schiedsstellen) wird sichergestellt, dass Fehlallokationen minimiert werden. Marktteilnehmer sind gefordert, ihre internen Prozesse kontinuierlich zu optimieren, um Compliance-Risiken zu vermeiden und die Integrität der Marktkommunikation zu wahren.