Verantwortungszuweisung bei Datenqualitätsmängeln im Spannungsfeld von technischer Prüfung (AHB) und marktlicher Abwicklung
1. Prozessuale Trennung und ihre Auswirkungen auf die Verantwortungszuweisung
Die prozessuale Trennung zwischen der technischen Prüfung nach den Allgemeinen Bedingungen für die Haushalts- und Bilanzkreisabrechnung (AHB) und der marktlichen Abwicklung (z. B. Bilanzkreisverantwortung, Lieferantenwechsel, Messstellenbetrieb) führt zu einer funktionalen Aufteilung der Zuständigkeiten, die bei Datenqualitätsmängeln klare Schnittstellenrisiken birgt. Diese Trennung ist regulatorisch gewollt, um unabhängige Kontrollmechanismen zu etablieren, kann jedoch zu Verantwortungsdiffusion führen, wenn:
Technische Prüfung (AHB): Die AHB-Prüfung obliegt dem Netzbetreiber oder einem beauftragten Dienstleister (z. B. Übertragungsnetzbetreiber im Bilanzkreisbereich). Sie umfasst die formale und inhaltliche Plausibilisierung von Messdaten, Bilanzkreisabweichungen und Abrechnungsgrundlagen. Die Verantwortung liegt hier in der Korrektheit der technischen Validierung – etwa der Identifikation von Fehlern in Zählerständen, Zeitreihendaten oder Netzverlusten. Datenqualitätsmängel, die in dieser Phase unentdeckt bleiben (z. B. falsche Zuordnung von Verbrauchsdaten zu Bilanzkreisen), können jedoch erst in der marktlichen Abwicklung auffallen.
Marktliche Abwicklung: Hier sind Bilanzkreisverantwortliche (BKV), Lieferanten und Messstellenbetreiber für die korrekte Nutzung der geprüften Daten verantwortlich. Sie müssen die Daten für Abrechnung, Prognosen und Ausgleichsenergiebeschaffung verwenden. Fehlerhafte Daten, die aus der AHB-Prüfung stammen, können hier zu finanziellen Fehlallokationen führen (z. B. falsche Ausgleichsenergiekosten oder Bilanzkreisabrechnungen).
Kernproblem: Die Trennung führt zu einer asymmetrischen Informationslage: Während die AHB-Prüfung technische Korrektheit sicherstellen soll, obliegt die wirtschaftliche Nutzung der Daten marktlichen Akteuren. Bei Mängeln stellt sich die Frage, ob der Fehler in der Prüfungsphase (z. B. unzureichende Plausibilisierung) oder in der Anwendung (z. B. falsche Interpretation durch den BKV) lag.
2. Regulatorische und vertragliche Mechanismen zur Schnittstellenkoordination
Um Verantwortungslücken zu schließen, existieren mehrere Steuerungsebenen:
a) Regulatorische Vorgaben (EnWG, StromNZV, MaBiS, GPKE)
- § 20 EnWG (Bilanzkreisverantwortung): Der BKV haftet für die korrekte Bewirtschaftung seines Bilanzkreises, einschließlich der Nutzung geprüfter Daten. Allerdings entbindet dies den Netzbetreiber nicht von seiner Pflicht, fehlerfreie Daten bereitzustellen (§ 21 EnWG).
- StromNZV (Stromnetzzugangsverordnung): Definiert die Pflichten der Netzbetreiber zur Datenbereitstellung und -prüfung. § 12 StromNZV verpflichtet Netzbetreiber, Messdaten innerhalb festgelegter Fristen zu plausibilisieren und an Marktteilnehmer zu übermitteln.
- MaBiS (Marktregeln für die Bilanzkreisabrechnung Strom): Enthält detaillierte Prüfkriterien für die AHB (z. B. Zeitreihenabgleich, Zählerstandsplausibilisierung) und regelt die Kommunikation zwischen Netzbetreiber und BKV. Bei Datenmängeln müssen Netzbetreiber Korrekturverfahren einleiten (z. B. nach § 6 MaBiS).
- GPKE (Geschäftsprozesse zur Kundenbelieferung mit Elektrizität): Standardisiert die Datenübermittlung zwischen Marktpartnern und sieht Fehlercodes vor, die bei Qualitätsmängeln ausgelöst werden.
b) Vertragliche Absicherung (Bilanzkreisverträge, Lieferantenrahmenverträge)
- Bilanzkreisverträge (BKV-Netzbetreiber):
Enthalten Haftungsklauseln für Datenfehler. Beispiel:
- Der Netzbetreiber garantiert die technische Richtigkeit der geprüften Daten.
- Der BKV muss offensichtliche Fehler (z. B. negative Verbräuche) melden.
- Bei nachträglichen Korrekturen (z. B. durch Zählerstandsnachberechnung) sind Rückabwicklungsmechanismen vorgesehen.
- Lieferantenrahmenverträge: Regeln die Datenweitergabe an den Lieferanten und sehen Schadensersatzansprüche bei grober Fahrlässigkeit vor (z. B. wenn der Netzbetreiber bekannte Fehler nicht korrigiert).
c) Eskalations- und Korrekturmechanismen
- Fehlermanagement nach MaBiS/GPKE:
- Automatisierte Fehlercodes (z. B. "Datenqualität unzureichend") lösen Nachprüfungen aus.
- Manuelle Eskalation: Bei Streitigkeiten über Datenqualität können Marktteilnehmer die Bundesnetzagentur (BNetzA) oder Schiedsstellen einschalten.
- Nachträgliche Datenkorrekturen:
- Zählerstandsnachberechnung (§ 12 StromNZV): Netzbetreiber müssen fehlerhafte Daten korrigieren und rückwirkend anpassen.
- Bilanzkreisabrechnungskorrekturen: Bei nachgewiesenen Fehlern in der AHB-Prüfung können Rückabwicklungen verlangt werden.
3. Praktische Herausforderungen und Lösungsansätze
Trotz der regulatorischen und vertraglichen Absicherung bleiben praktische Probleme:
- Zeitliche Verzögerungen: Datenfehler werden oft erst in der Abrechnung entdeckt, was zu langwierigen Korrekturverfahren führt.
- Beweislastverteilung: Bei Streitigkeiten muss der Geschädigte nachweisen, dass der Fehler in der AHB-Prüfung lag – was bei komplexen Datenlagen schwierig ist.
- Schnittstellenkomplexität: Die Vielzahl beteiligter Akteure (Netzbetreiber, BKV, Messstellenbetreiber, Lieferanten) erschwert die eindeutige Fehlerzuordnung.
Lösungsansätze:
- Automatisierte Plausibilitätsprüfungen: Einsatz von KI-gestützten Tools zur Früherkennung von Datenanomalien.
- Transparente Dokumentation: Netzbetreiber sollten Prüfprotokolle offenlegen, um Nachweispflichten zu erleichtern.
- Standardisierte Eskalationspfade: Klare Regelungen, wer bei welchen Fehlertypen (technisch vs. marktlich) zuständig ist.
4. Fazit: Verantwortung als geteiltes Risiko
Die prozessuale Trennung zwischen AHB-Prüfung und marktlicher Abwicklung führt zu einer funktionalen Arbeitsteilung, die jedoch keine vollständige Haftungsentlastung der beteiligten Akteure bedeutet. Während die technische Verantwortung beim Netzbetreiber liegt, obliegt die wirtschaftliche Nutzung den Marktteilnehmern. Regulatorische Vorgaben (EnWG, MaBiS) und vertragliche Mechanismen (Bilanzkreisverträge) sichern die Schnittstellenkoordination ab, erfordern aber klare Prozesse, Dokumentation und Eskalationswege, um Datenqualitätsmängel effizient zu adressieren. Bei anhaltenden Streitigkeiten bleibt die Bundesnetzagentur als letzte Instanz für die Klärung von Verantwortlichkeiten zuständig.