Risikoverteilung und prozessuale Anpassungen bei stillschweigender Übernahme im gaswirtschaftlichen Abwicklungsprozess
1. Veränderung der Risikoverteilung durch das Prinzip der stillschweigenden Übernahme
Das Prinzip der stillschweigenden Übernahme (auch „Silent Acceptance“) verschiebt die Risikoverteilung im gaswirtschaftlichen Abwicklungsprozess grundlegend zugunsten des Absenders und zu Lasten des Empfängers. Durch die Regelung, dass eine Empfangsbestätigung ohne anschließende Fehlermeldung (z. B. via APERAK-Nachricht) als ordnungsgemäße Übernahme der Nachricht gilt, wird die Verantwortung für die inhaltliche und technische Prüfung der Daten vollständig auf den Empfänger übertragen.
Risikoverlagerung auf den Empfänger
- Technische und inhaltliche Prüfpflicht: Der Empfänger muss sicherstellen, dass die empfangenen Daten (z. B. Nominierungen, Allokationen oder Bilanzkreisabrechnungen) formal korrekt, plausibel und mit seinen Systemen kompatibel sind. Unterlässt er eine Prüfung oder erkennt Fehler nicht rechtzeitig, gilt die Nachricht als akzeptiert – selbst wenn sie fehlerhaft ist.
- Haftung für Folgefehler: Da der Absender nach Ablauf der Frist für Fehlermeldungen von einer ordnungsgemäßen Verarbeitung ausgehen darf, trägt der Empfänger das Risiko für spätere Korrekturen, z. B. bei falschen Nominierungen oder Abrechnungsdifferenzen. Dies kann zu finanziellen Nachteilen führen, etwa durch Ausgleichsenergiekosten oder regulatorische Sanktionen.
- Prozessuale Unsicherheit: Die stillschweigende Übernahme schafft eine asymmetrische Informationslage. Der Absender kann sich auf die Gültigkeit seiner Daten verlassen, während der Empfänger unter Zeitdruck steht, um Fehler zu identifizieren und zu melden.
Entlastung des Absenders
- Reduzierte Sorgfaltspflichten: Der Absender muss nicht aktiv prüfen, ob der Empfänger die Daten korrekt verarbeitet hat. Solange keine Fehlermeldung eingeht, gilt die Transaktion als erfolgreich – selbst wenn der Empfänger die Daten später als fehlerhaft erkennt.
- Vereinfachte Abwicklung: Die Regelung beschleunigt den Prozess, da keine explizite Bestätigung der inhaltlichen Richtigkeit erforderlich ist. Dies ist insbesondere in hochfrequenten Märkten (z. B. Intraday-Handel) vorteilhaft.
2. Notwendige prozessuale und vertragliche Mechanismen zum Ausgleich der Asymmetrie
Um die Risikoverlagerung auszugleichen und eine faire Abwicklung zu gewährleisten, sind folgende Maßnahmen erforderlich:
A. Regulatorische Vorgaben
Klare Fristen und Formate für Fehlermeldungen
- Die Frist für die Übermittlung von Fehlermeldungen (z. B. via APERAK) muss präzise definiert sein, um Rechtssicherheit zu schaffen. Üblich sind hier 2–4 Stunden nach Empfang der Nachricht, abhängig vom Nachrichtentyp (z. B. kürzer für Intraday-Nominierungen).
- Die Formate für Fehlermeldungen sollten standardisiert sein (z. B. nach EDIG@S- oder AS4-Standards), um automatisierte Verarbeitung zu ermöglichen.
Pflicht zur automatisierten Plausibilitätsprüfung
- Empfänger müssen verpflichtet werden, eingehende Nachrichten unverzüglich auf formale und inhaltliche Fehler zu prüfen (z. B. Syntax, Referenzdaten, Volumengrenzen). Dies kann durch technische Vorgaben (z. B. BDEW- oder ENTSOG-Standards) oder vertragliche Klauseln sichergestellt werden.
- Automatisierte Prüfroutinen (z. B. EDI-Validatoren) sollten vorgeschrieben werden, um menschliche Fehler zu minimieren.
Regulatorische Sanktionen bei Pflichtverletzungen
- Bei unterlassener oder verspäteter Fehlermeldung sollte der Empfänger die finanziellen Folgen tragen (z. B. Ausgleichsenergiekosten). Dies kann durch Marktregeln (z. B. GABi Gas) oder Netzanschlussverträge geregelt werden.
B. Vertragliche Anpassungen
Haftungsklauseln für fehlerhafte Datenübernahme
- Verträge zwischen Marktpartnern (z. B. Bilanzkreisverantwortlichen, Netzbetreibern) sollten klar regeln, unter welchen Bedingungen der Empfänger für Schäden haftet, die durch unterlassene Fehlermeldungen entstehen.
- Beispiel: „Der Empfänger haftet für alle direkten und indirekten Schäden, die durch die Nichtmeldung von Fehlern innerhalb der vereinbarten Frist entstehen, sofern diese auf grober Fahrlässigkeit oder Vorsatz beruhen.“
Eskalationsmechanismen bei Streitigkeiten
- Für den Fall, dass der Empfänger Fehler erst nach Ablauf der Frist erkennt, sollten vertragliche Eskalationsverfahren etabliert werden (z. B. Schiedsstellen oder Clearingstellen wie die ECC oder EFET).
- Eine Beweislastumkehr zugunsten des Absenders kann sinnvoll sein: Der Empfänger muss nachweisen, dass er die Daten tatsächlich geprüft hat.
Technische Schnittstellen und Monitoring
- Verträge sollten die Einrichtung von Monitoring-Systemen vorsehen, die den Status von Nachrichten (empfangen, geprüft, fehlerhaft) protokollieren. Dies dient der Nachvollziehbarkeit und Beweissicherung.
- Die Nutzung von Blockchain- oder Distributed-Ledger-Technologien kann die Transparenz erhöhen, indem alle Schritte der Datenübernahme dokumentiert werden.
C. Operative Maßnahmen
Schulungen und Prozessdokumentation
- Mitarbeiter auf Empfängerseite müssen regelmäßig in den Prüfprozessen geschult werden. Klare Arbeitsanweisungen (z. B. SOP – Standard Operating Procedures) sind essenziell, um Fehler zu vermeiden.
- Eine Risikoanalyse sollte potenzielle Fehlerquellen (z. B. manuelle Eingriffe, Systemausfälle) identifizieren und Gegenmaßnahmen definieren.
Redundante Prüfmechanismen
- Neben automatisierten Prüfungen sollten stichprobenartige manuelle Kontrollen durchgeführt werden, insbesondere bei kritischen Nachrichten (z. B. Nominierungen mit hohen Volumina).
- Vier-Augen-Prinzip für besonders risikobehaftete Prozesse (z. B. Bilanzkreisabrechnungen).
Notfallpläne für Systemausfälle
- Klare Regelungen für den Fall, dass technische Störungen (z. B. EDI-Ausfall) eine rechtzeitige Fehlermeldung verhindern. Hier können Fallback-Lösungen (z. B. manuelle Meldung per E-Mail mit Zeitstempel) vereinbart werden.
3. Fazit
Das Prinzip der stillschweigenden Übernahme optimiert die Effizienz des gaswirtschaftlichen Abwicklungsprozesses, führt jedoch zu einer signifikanten Risikoverlagerung auf den Empfänger. Um diese Asymmetrie auszugleichen, sind regulatorische Vorgaben (klare Fristen, Prüfpflichten), vertragliche Anpassungen (Haftungsklauseln, Eskalationsmechanismen) und operative Maßnahmen (automatisierte Prüfungen, Schulungen) unerlässlich. Nur durch ein Zusammenspiel dieser Mechanismen kann eine faire und rechtssichere Abwicklung gewährleistet werden, die sowohl die Interessen des Absenders als auch des Empfängers berücksichtigt.